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Kalter Sommer

©  Achim Stößer


Manyang presste den Becher gegen die Schnitte im Hals des Rinds. Blut strömte hinein. Er goss Milch dazu, dann trank er gierig. Als er den Becher geleert hatte, leckte er ein paar Tropfen der salzigen, fettigen Flüssigkeit von den Lippen.
Er war schlechter Stimmung. Schließlich war er Krieger, Hirte und Fischer, und nun, zum Ende der Regenzeit, musste er sich dazu herablassen, die Arbeit eines gewöhnlichen Ackerbauern zu übernehmen, die spärliche Ernte einbringen. Missmutig schüttelte er den Kopf. Wie viel lieber hätte er das Lager jetzt verlassen und eine der fast alltäglichen bewaffneten Auseinandersetzungen um die Rinder ausgefochten! Für seine erste Frau, Nyanagao, hatte er zwanzig Stück Vieh bezahlt. Andere hatten bis zu fünfzig Frauen, und eine Frau konnte gut zweihundert Rinder kosten. Doch so reich war er bei weitem nicht. Noch viele Kämpfe standen ihm bevor.
Wenigstens würde er bald mit dem Kanu zum restlichen Vieh auf die Weideplätze fahren. Nyanagao und sein Sohn waren in der Hütte sicher, denn Krieger töteten keine Frauen und Kinder auf ihren Raubzügen.
Er war stolz auf sein Vieh. Die mächtigen, elegant geschwungenen Hörner des Tiers, von dem er gerade getrunken hatte, waren mit Büffelquasten geschmückt, die bei der leisesten Bewegung hin- und herbaumelten. Tagtäglich rieb er sorgfältig das Fell seiner Rinder ab. Doch sie waren nicht nur
Prestige- und Tauschobjekte. Sie lieferten Blut und Milch, in seltenen Fällen auch Fleisch, denn zum Schlachten waren sie zu wertvoll. Selbst ihre Ausscheidungen konnten verwendet werden: seine eigenen Haare waren mit Kuhurin gebleicht, die Haut mit Asche von Dungfeuern geschminkt. Die Stirn zierten Narbentatauierungen, Stammeskennzeichen, die ihm bei seiner Initiation beigebracht worden waren.
Noch mehr als die bevorstehende Erntearbeit bedrückte ihn, dass ein Löwe eines seiner besten Rinder gerissen hatte. Doch da der Löwe das Totemtier seiner Vorfahren war, konnte er nichts dagegen unternehmen. Die Geister der Vorfahren beschützten ihn gewöhnlich. Die Toten, die neben den Hütten begraben waren, wurden vor einem Holzschrein verehrt, und Manyang behängte seinen Kopf mit Früchten, die bei dem Schrein wuchsen, damit die Geister ihn vor Sumpfkrankheiten bewahrten. Als Gegenleistung hatte er in seiner Hütte Zweige aufgehängt, in denen der Geist nisten konnte, wenn es ihm im Schrein zu warm wurde.
Nachdenklich starrte Manyang über das Wasser des Weißen Nil, das träge vorüberfloss.
*
Marisa wachte auf und versuchte, sich zu orientieren, während auf dem Fernsehschirm brennende Häuser explodierten und Trümmer durch die Luft wirbelten. Ein rochenartiges Raumschiff schoss aus einem stieläugigen Geschütz grellleuchtende Strahlen. Heulende Geräusche wie billige Soundeffekte alter Videospiele mischten sich unter den Lärm.
Sie war schweißnass, ihr Haar klebte in der Stirn. Der Arm, in dessen Beuge sie ihr Gesicht gepresst hatte, und dessen Handgelenk sich auf die ausgezogene Nachttischschublade stützte, kribbelte, als wieder Blut durch ihn zu strömen begann.
Der Held auf dem Schirm sprang auf, duckte sich unter fallenden Trümmern hinweg. Eine Überblendung zeigte einen Mann im blauen Anzug, der in erhabenem Singsang vortrug: "Hab Erbarmen, oh Herr. Lass Deine Gnade über uns leuchten." Er senkte das Haupt. "Verlasse uns nicht."
Lichtsalven aus den Raumschiffgeschützen ließen das bunte Glas der Kirchenfenster aufleuchten, und Lichtfinger stachen durch die geschlossene Jalousie in Marisas Augen. Sie schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit loszuwerden. Als sie sich aus dem Bett wand, verfing sich ihr Bein im Laken, sie stolperte, stützte sich mit der Hand irgendwo ab. Ein Teller fiel zu Boden, Trauben und Kerne flogen durch die Luft, der Teller zerbrach. Im Fall versuchte sie den Scherben auszuweichen und zerriss eine auf dem Boden liegende Zeitschrift.
Der Held drängte sich durch die Massen zwischen den Kirchenbänken.
Chorgesang übertönte die jaulenden Klangeffekte. "Sylvia!" rief er mehrmals, und Sylvia bestätigte ihre Anwesenheit fast ebenso häufig mit einem "Hier!" - "Lassen Sie mich durch, bitte!" bat sie die Gläubigen, die von ihr soviel Notiz nahmen wie Bäume von einem streunenden Hund. Das Raumschiff kam näher.
Resigniert setzte Marisa sich auf, atmete tief durch. Wieder einer dieser Tage, an denen alles schiefgeht. Sie tastete auf dem Nachttisch nach ihrer Brille. Zumindest war sie jetzt wach.
Leuchter stürzten von der Kirchendecke, Staubwolken wirbelten auf, der Chorgesang verstummte. Schreie.
Mit dem Laut ersterbender Düsen schob das Raumschiff sich wie ein strandender Wal in eine Häuserfront.
Der Held hielt Sylvia im Arm. Jemand intonierte das Vaterunser. Die Menschen richteten sich auf, strömten aus der Kirche, um das Wrack zu betrachten.
Zischend öffnete sich der Ausstieg. Eine dreifingrige Hand mit saugnapfartigen Fingerspitzen schob sich in Agonie tastend heraus.
"Was hat das zu bedeuten?" Der Held ging darauf zu. Die Hand lag still. Er machte eine Geste, als wolle er ihren Puls fühlen. "Tot." Mit einem Blick ins Raumschiffinnere überzeugte er sich. "Wie durch ein Wunder sind wir gerettet worden." Bestätigend erklang Kirchenglockengeläut.
Marisa zog angewidert eine Grimasse. Marsianische Invasoren totbeten, wenn Wells das geahnt hätte. Obwohl es Jahre her war, dass sie den Film zuletzt gesehen hatte, wusste sie, wie er endete: mit Lobeshymnen und einem langanhaltenden gesungenen "Amen" zu fast körperlich präsenter Musik.
Sie griff nach der Fernbedienung und schaltete einen Nachrichtenkanal ein.
Der Sprecher verkündete mit ernstem Gesicht Sportergebnisse. Marisa sah ihn wütend an. "Wenn ich Leute sehen wollte, die im Kreis rennen oder einen Puck übers Eis treiben, würde ich einen Sportkanal einschalten, verdammt", fauchte sie. Sie hielt einen Augenblick inne, als würde sie eine Antwort erwarten, aber es kam keine Reaktion. "Wir stehen am Rand eines Kriegs, ob das nun friedenserhaltende oder -schaffende Maßnahme genannt wird oder Vorwärtsverteidigung. Ich will hören ob der Jemen oder Äthiopien dem Islamischen Staatenbund beigetreten ist, ob BiTec nur Geräte zur Herstellung von Vitaminpräparaten an die Mullahs geliefert hat oder ob das duale Technologie war, mit der zufällig auch biologische Kampfstoffe hergestellt werden können, ob der Mossad oder der CIA für die Sabotage der mikrobiologischen Anlagen verantwortlich ist; nicht, wer die Weltmeisterschaft im Eierlaufen gewonnen hat." Außer Atem schnappte sie nach Luft, dann drückte sie verärgert eine andere Taste.
Sie ging zum Waschbecken und kühlte Gesicht und Hände. Wenn sie doch nur eine Dusche hätte. "Das ist unglaublich", schrien die Lautsprecher. "Kaum zu fassen, aber wahr. Wir befinden uns auf der obersten Plattform des Fernsehturms; vor uns das brennende Tokio, ein einziges Flammenmeer, Tod und Vernichtung wohin der Godzilla seinen Fuß setzt. Unmittelbar vor uns Tokios Prachtstraße ..."
Verzweifelt schlug Marisa ihren Blick zur Decke, dann klatschte sie eine weitere Handvoll Wasser auf ihre Brust.
"Hier meldet sich wieder der Berichterstatter vom Fernsehturm. Noch immer wütet der Godzilla. Er nähert sich unserem Bezirk. Er kommt auf uns zu. Es bleibt uns keine Möglichkeit und keine Zeit zu fliehen." Das Untier grunzte, die Musik steigerte sich, um den kommenden Höhepunkt vorwegzunehmen.
Marisa betupfte sich vorsichtig mit dem Handtuch, um einen Rest kühlender Feuchtigkeit auf ihrer Haut zu lassen. Wenn das keine Mauerschau war ... "Er ist unmittelbar vor uns. Unsere letzte Stunde hat geschlagen. Wir berichten weiter. Mit seinen Pranken greift er nach uns. Sein Rachen gähnt. Der Turm wankt unter der Urkraft dieses Giganten. Das ist das Ende. Leben Sie wohl.
Alle. Ahhhhh."
Als Marisa später vor die Haustür trat, kniff sie geblendet die Augen zusammen und blieb stehen, ehe ihre Brillengläser eine dunklere Tönung annahmen. Mit einem lauten "Patsch!" explodierte etwas neben ihr auf dem Pflaster. Sie riss den Kopf hoch und sah gerade noch ein paar Kindergesichter auf einem Balkon im dritten Stock verschwinden. Mit dem Fuß untersuchte sie das Geschoss: Eiskristalle, schwerer Schneematsch. Offenbar hatten sie gefrorenen Reif aus einem abtauenden Kühlschrank zusammengekratzt.
Ein zweiter Schneeball zerplatzte dicht neben ihr. "Na wartet!" rief sie lachend nach oben. "Wenn ich euch erwische!" Ein weiterer Eisklumpen flog über die Brüstung, sie sprang zur Seite und lief, schneller als nötig, davon.
*
Schutzgeister, das wusste Manyang, können auch Unheil bringen, wenn die Schreine nicht sorgfältig verehrt werden: Blindheit, Tod. Er hatte ein Mädchen als zweite Frau auserkoren; sie war fünfzehn Jahre alt und trug, obwohl diese Tradition immer weniger gepflegt wurde, das Perlenmieder, mit dem sie ihren Heiratswillen ausdrückte. Doch in der letzten Zeit waren immer mehr Rinder erblindet. Während er, den Fischspeer in Bereitschaft, in seinem Kanu stand, grübelte er darüber nach, wie sie die Ahnen wohl erzürnt haben mochten. Er stieß zu, zog den leeren Speer wieder aus dem Wasser. Ein zweiter Stoß, diesmal hatte er einen großen Nilbarsch aufgespießt, warf den zuckenden Fisch zum Rest seiner Beute.
Schräg vor ihm tauchte prustend ein Flusspferd auf, entblößte mit gähnendem Rachen die langen Hauer, grunzte, verärgert über die Störung.
Er sah nach der Sonne. Nun hatte er schon den zwölften Teil des Tages gearbeitet, genug für heute. Er hatte bereits so viele Fische gefangen, dass einige von ihnen verderben würden. Als er am Ufer anlegte, stakste ein Schuhschnabel beleidigt davon. Ein Fischadler stieg von einem nahegelegenen Baum auf. Manyang nahm die Barsche, Welse und Tigerfische aus dem Kanu und machte sich auf ins Lager.
Kurz bevor er die Hütten erreichte, traf er im jetzt trockenen Überschwemmungsgebiet, in dem bei Flut das Wasser so hoch stand wie ein Kind, Nyanagao. Sie schlug mit einem Stock auf eine Kürbistrommel, um Lungenfische anzulocken. Da - gerade kroch einer aus seinem unterirdischen Kokon, in dem er sich bei abziehender Flut eingegraben hatte. Bis das Wasser zurückkehrte, verbrachten sie im Sommerschlaf die Zeit zusammengerollt unter der Erde; das Trommeln hielten sie für Regen, und so kamen sie hervor, um im Kochtopf zu landen. Nyanagao durchbohrte den Fisch. Er starrte aus kugeligen Augen, wand sich stumm. In Form und Größe glich er eher einer Gurke als einem Tier.
Manyang ging weiter. Über den Hütten kreisten Milane, hofften darauf, ein paar Fischabfälle rauben zu können.
Eine ungewohnte Bewegung am Rand seines Gesichtsfelds ließ ihn aufsehen.
Seine Kinnlade klappte nach unten. Eine Fliege, von der dunklen Höhle angezogen, verirrte sich in seinen Mund; er spuckte sie aus und wandte seinen Blick wieder dem Ding zu, das über den Himmel rannte. Was war das für ein Ungeheuer? Sein Äußeres glich einem Tigerfisch, doch es war größer jedes Tier, das Manyang je gesehen hatte. Sein Schwanzende spie Feuer und Rauch.
Es kam direkt auf ihn zu. Er ließ sich fallen, duckte sich ins hohe, trockene Gras, grub sein Gesicht in den Staub zwischen den Halmen. Der Meister des Fischspeers hatte davon gesprochen. Er hatte die Ahnen erzürnt, und nun schickten sie ihre flammende Waffe, um ihn zu bestrafen. Doch was hatte er getan, um ihren Zorn zu erregen? Es konnte nicht mehr lange dauern, und der Speer würde ihn erschlagen.
Oder was es nicht der Speer der Ahnen? Stammte es etwa von den fahlen Menschen? Manyang wagte es nicht, aufzusehen. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, ehe der Faustschlag ihn traf. Nein, so etwas konnten selbst die fahlen Menschen nicht, da war er sicher. Sie sperrten Stimmen in Kästen ein und ritten auf kalten, harten Tieren, die stinkendes Wasser tranken und schrecklich brüllten, doch mit der Macht der Geister konnte sich ihre Zauberei nicht messen.
Manyang hielt die Augen fest geschlossen, die Stirn auf den Boden gepresst.
Gleich musste es soweit sein. Er zitterte vor Angst. Warum? Warum?
Nichts geschah. Zaghaft sah er auf. Der Speer war verschwunden. Rasch suchte sein Blick den Himmel ab. Da! Die Geister hatten ihn verschont, der Speer war über ihn hinweggeflogen, entfernte sich in Richtung Fluss.
Dort befand sich das sagenhafte, riesige Lager, von dem die fahle Frau, Naomi, erzählt hatte. Viele Wunderdinge gab es dort, und viele Menschen, sicher zehn Mal so viele wie in seinem Stamm und noch mehr, obwohl Manyang das kaum glauben konnte. Gehörte der Speer vielleicht doch ihnen? Oder waren sie es, die ihre eigenen Ahnen strafen wollten? Hatte gar Nialich selbst die Hand im Spiel?
Ein Donnerknall ertönte, und er warf sich erneut zu Boden. Totenstill war es, kein Tier rührte sich, nicht einmal das Schwirren der kleinen Insekten war zu vernehmen.
*
Marisa steckte die Eistüte in das Gestell auf der Theke und nahm das Geld entgegen. Sie konnte förmlich sehen, wie das Eis in der Hitze wegschmolz.
"Einmal Melone und einmal Traube."
"Melone und Traube", wiederholte sie, während sie den Eislöffel ins Wasser tauchte und zwei Kugeln in die Waffeltüte setzte. "Drei vierzig, bitte."
"Haben Sie auch welches ohne Milch?" fragte der nächste Kunde.
"Sojaeis, aber natürlich", sagte sie, deutete vage auf die entsprechenden Behälter und verkniff es sich, auf die deutliche Beschriftung hinzuweisen.
"Dann hätte ich gern Nuss, Mokka und Schokolade."
"Das macht sechs sechzig."
Enzo kam, mit einem Tuch ein Glas auswischend, aus dem dunklen Inneren des Eiscafés. "Heiß heute", sagte er. "Gut fürs Geschäft."
"Wenn du das sagst, Onkel. Aber allzu viel ist nicht los."
"Sicher, es ist ja auch noch früh. Und wir haben erst April."
Gemächlich schlenderte ein fetter Mann über den Marktplatz auf sie zu.
Gegenüber zuckte nervös vor den Kirchenportalen ein Neonschild, das verkündete, die Kirche sei offen zum Gebet. Und die Gläubigen rannten diese offenen Türen beinahe ein, als wäre Weihnachten, und nicht irgendein gewöhnlicher Tag im Frühsommer.
"Knoblaucheis, drei Kugeln", sagte der fette Mann.
Marisa unterdrückte ein Schaudern. "... und drei", sagte sie. "Fünf zehn."
Der fette Mann ging leicht vornüber gebeugt und mit weit abgespreiztem Ellbogen davon.
"Diese Leute machen mir Angst", sagte Marisa leise.
"Was?" fragte Enzo. "Wen meinst du?"
Sie deutete mit dem Eislöffel auf den dunklen, klobigen Bau. "Ich frage mich, warum Gott die Kirchen nicht wegen Eigenbedarf kündigt. Sie können ihn nicht sehen, nicht hören, nicht riechen und nicht mit Geigerzählern messen, nur Wirken könnte seine Existenz beweisen. Aber er wirkt nicht. Nicht mehr als ein Placebo. Er lässt die Kinder in halb Afrika verhungern."
Enzo schüttelte schnaubend den Kopf. "Das ist Gotteslästerung! Wenn das deine Mutter hören würde."
"Sie hört es aber nicht. Und außerdem ..." Sie wandte sich ihm zu, so dass er die Aufschrift ihres T-Shirts lesen konnte: Warum braucht Gott dein Geld?
Denk nach, bevor du spendest. "...außerdem ist Blasphemie ein Verbrechen ohne Opfer. Statt alberne Zauberformeln vor sich hin zu murmeln und Blauhelme lastwagenweise Bibeln nach Eritrea karren zu lassen, sollten sie lieber etwas tun. Als ob eine Religion weniger schwachsinnig wäre als die andere. So werden sie die militanten Moslems kaum zur Räson bringen, die islamischen Revolutionswächter erst recht nicht."
"Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass ich solche Sprüche hier nicht hören und schon gar nicht sehen will. Außerdem, was tust du denn? Eis verkaufen."
"Ja, ja. Schließlich muss ich irgendwie die Miete bezahlen und mein Studium finanzieren. Was soll ich denn tun? Ich bin nicht die Europäische Bibelgesellschaft, die Ablassgelder scheffelt und dann gemäß dem Bibelwort:
'Der Mensch lebt nicht vom Brot allein' die Einweihung von Bibelhäusern in der ganzen Welt mit Sekt und Kaviar feiert, während vor der Tür die Menschen krepieren, weil sie nichts zu Essen haben."
"Hör auf mit -" Er brach ab. "Kundschaft", zischte er und tauchte im Dunkel unter.
Vor der Theke stand ein Mann, auf seinen Schultern ritt ein kleines Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt. Eine Frau mit einem winzigen Terrier auf dem Arm verlangte eine Kugel Amaretto. Sie bezahlte und hielt dem Hündchen das Eis hin. Es leckte mit langer Zunge daran und die Frau ging mit dümmlichem Lächeln davon.
Der Mann mit dem Mädchen wippte leicht auf und ab, um sie auf sich aufmerksam zu machen, schielte nach oben und fragte: "Was für Eis möchtest du denn?"
Das Mädchen dachte einen Augenblick angestrengt nach. Dann sagte sie
bestimmt: "Rotes." Ihre Haare wurden von einem Gummiband zusammengehalten und schienen wie eine Fontäne aus ihrem Kopf zu sprudeln.
Marisas verkniffener Gesichtsausdruck wich einem Lächeln. Vielleicht würde der Tag doch nicht so schlimm werden. "Erdbeere?"
Der Mann schüttelte den Kopf. "Himbeereis. Und für mich Zitrone, Banane, Stracciatella und Kokos."
Sie füllte die Waffeltüten und setzte sie auf das Gestell. "Acht fünfzig, bitte."
Das Glockenspiel der Kirchturmuhr kündigte lärmend und aufdringlich die zehnte Stunde an. Der Mann kramte etwas Kleingeld aus dem Portemonnaie und gab es ihr umständlich, behindert durch das Gewicht auf seinen Schultern.
Ein paar Münzen fielen ihr aus der Hand, sie bückte sich.
Ein kleiner, feuchter, roter Blutfleck erschien auf den Kacheln. Ein zweiter, ein dritter. Sie presste die Hand auf die Nase. "Nicht schon wieder", murmelte sie.
Noch ehe der letzte Glockenschlag verklungen war, zerriss ein Knall vom Himmel die Stille.
*
Das Ende der Trockenzeit war gekommen, und damit die Zeit der Krankheiten, Grund genug, dem Gott Nialich zu opfern. Der Meister des Fischspeers hatte Widderharn über sich gegossen und anschließend den Widder geschlachtet. Sie tanzten und sangen. Früher waren dabei einige trotz der Hitze und Anstrengung in Kontakt mit den Ahnen getreten, sie hatten sich zuckend und geifernd am Boden gewälzt, doch obwohl es in diesem Jahr viel kälter geworden war als zuvor, war es diesmal keinem gelungen. Ein böses Zeichen.
Wie immer um diese Jahreszeit wurde die Nahrung knapp, also gingen sie auf die Jagd. Sonst waren die Weideplätze trocken, Antilopen tauchten auf. Die Weiden brannten, zurück blieben Büschel verkohlter Stoppeln, so scharf wie Nadeln, die beim Laufen zu eiternden Wunden führen konnten, so dass die Jäger nur liefen, wenn Aussicht auf Erfolg bestand. Doch seit der Ankunft des großen Speers war alles anders. Es hatte viel früher als in den Vorjahren zu regnen begonnen, der Sumpf war nicht länger ausgetrocknet.
Meinten die Schutzgeister es vielleicht doch gut mit ihnen?
Manyang und seine Gefährten liefen dennoch mit beklommenem Gefühl über die kühle, weiche Erde. Eine Herde Giraffen galoppierte scheinbar gemächlich vorüber. Sie wählten eine davon aus, folgten ihr, kreisten sie ein, trieben sie in die Enge und warfen schließlich ihre Speere. Drei der Waffen trafen, das Tier brüllte, lief noch ein paar unsichere Schritte, brach dann zusammen. Blut schoss aus den Wunden. Der Kopf mit den fünf charakteristischen Knochenzapfen bäumte sich noch einmal auf dem langen Hals auf, dann lag es still bis auf das strömende Blut. Seine Augen wurden stumpf.
Die Jäger jubelten. Ein so großes Tier bedeutete eine Menge Fleisch.
Doch Manyangs Freude währte nicht lang. Der Himmel war grau verhangen. So sollte es keinesfalls sein, nicht zu dieser Zeit. Verwirrt und ängstlich starrte er die dunklen Massen an, die sich über ihm türmten. Oder war das ein gutes Zeichen? Waren die Ahnengeister versöhnt? Die Luft war kalt, kalt wie die Haut der Tiere der fahlen Menschen.
Dann fiel etwas vom Himmel wie Baumwollsamen, doch es waren keine. Manyang sah zum ersten Mal in seinem Leben Schnee. Eine der Flocken berührte seine Haut. Er schrie auf und wischte sie weg. Weitere Flocken trafen ihn, und er bemerkte, dass sie nicht heiß waren, wie er geglaubt hatte, sondern kalt, kälter als alles, was er kannte. Wenn sie auf seinem Körper oder der Erde liegen blieben, verwandelten sie sich auf wunderbare Weise in klares Wasser.
Manyang leckte ein paar Tropfen von seiner Hand. Es schmeckte kühl und frisch.
Sie lachten und hüpften herum, tanzten mit den fallenden Schneeflocken um die Wette. Die Strahlung konnten sie weder schmecken, noch riechen, noch sehen. Nur die Auswirkungen würden sie spüren.
Ob es die Geister waren oder die fahlen Menschen, sie hatten ihnen einen seltsamen Regen gebracht.



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